Selbstverwaltete Schule

1. Ursache der galoppierenden Selbstverwaltung
Eine Folge des PISA-Schocks war und ist, dem Vorbild anderer erfolgreicherer Länder folgend, in Deutschland schrittweise die Schulen in eine immer größere Autonomie ‚zu entlassen’. Außer acht gelassen wurde bei der Ursachenanalyse allerdings die Zersplitterung des Bildungs- und Erziehungsauftrages sowohl im föderalen Sinne sowie in der in Deutschland üblichen Verteilung auf die unterschiedlichsten Zuständigkeiten (Kinderbetreuung, Schule, soziale Unterstützung, Gesundheitsvorsorge, psychologische Hilfen etc.).
Das Problem der mangelnden Leistungsfähigkeit wurde also nur partiell von den Leitungen der Kultusbürokratie widerwillig aber richtig erkannt, dass ihre eigenen langsamen und schwerfälligen zentral gesteuerten Systeme weder angemessen Bildungsangebote für eine zunehmend sich lokal differenzierende Struktur von Auszubildenden bereitstellen konnten, noch dass die Zentralsteuerung mit der Geschwindigkeit der Veränderungsnotwendigkeiten Schritt halten konnte. Dabei ist die partielle Widerwilligkeit wichtig, da ein Teil der Bürokratie (insbesondere im mittleren Managementbereich der Ministerien) diesem Prozess infolge des drohenden Bedeutungsverlustes zumindest skeptisch gegenüber eingestellt ist.

2. Worin besteht nun die neue Autonomie?

  • Ein erster Schritt stellt hier eine gewisse Finanzautonomie bei der Anschaffung von Sachmitteln dar. Ob und welche Schulbücher, Geräte für Schülerversuche, Beamer oder Schulmöbel etc. gekauft werden, wird den Schulen überlassen. Die Steuerung erfolgt in der Regel über Pro-(Schüler)Kopfsätze, die den Schulen pro Jahr zur Verfügung gestellt werden und mit denen auskömmlich gewirtschaftet werden muss. Teilweise werden die Schulen dabei auch vom unsäglichen ‚November-Fieber’ befreit, d.h., sie können nicht ausgegebene Beträge auf die Folgejahre übertragen. Gegängelt werden die Schulen aber vielfach noch darüber, dass für viele Gegenstände (z.B. Schulmöbel oder Computer) zentrale Ausschreibungen vorgenommen werden, an die die Schulen gebunden sind.
  • Ein weiterer Schritt wird vielfach in der Übertragung einer partiellen Autonomie im Bauunterhaltungsbereich vorgenommen. Hier wird ebenfalls ein gedeckeltes Budget zur Verfügung gestellt, mit denen dann ‚normale’ Instandhaltungen wie Wartungen, Malerarbeiten aber auch verbrauchsreduzierende Installationen (Wasserdurchlaufbegrenzer, Thermostatventile, Stromabschaltsysteme etc.) eingebaut werden können. Es gibt auch Bundesländer, die den daraus erwirtschafteten Gewinn den Schulen partiell für andere Projekte gutschreiben.
  • In einem dritten Schritt werden den Schulen auch Freiräume bei der Rekrutierung und Einstellung von zusätzlichem Personal gewährt. Auch hier erfolgt in der Regel eine Budgetierung, um mit dem so zugewiesenen Geld Honorarkräfte mit Zeitverträgen für Vertretungsunterricht, Hausaufgabenhilfe, Nachmittagsbetreuung, Neigungskursleiter etc. einstellen zu können. Der Support der Bildungsbürokratie beschränkt sich dann auf die Bereitstellung von Vertragsvorlagen, der Abforderung von Arbeitsnachweisen und der Auszahlung der Entlohnung. Auch Budgets für Vertretungslehrkräfte gehen in diese Richtung, werden doch auch hier in der Regel nur befristete Arbeitsverhältnisse begründet.
  • Einige Bundesländer sind mittlerweile sogar dazu übergegangen, auch die Rekrutierung neuen Lehrkräftepersonals den Schulen zu übertragen. Hier erhalten die Schulen dann nach den Bedarfsberechnungen der Bildungsbürokratie freie Stellen zugewiesen, die dann schulbezogen ausgeschrieben werden können. Das gesamte Auswahlverfahren obliegt dabei mit allen Risiken dann den Schulleitungen, lediglich die Vertragsausfertigung ist dann noch Sache des Kultusministeriums.
  • Schließlich werden die Schulen auch in der Form ‚von der Leine gelassen’, wie sie den Unterricht organisieren, welche Inhalte unterrichtet werden und wie gesetzte Ziele erreicht werden. Die zentralen Vorgaben erschöpfen sich in relativ allgemein gehaltenen, kompetenzorientierten Rahmenplänen, die den Schulen abverlangen, eigene Curricula und eine eigene Unterrichtsorganisation auf die Beine zu stellen.

3. Wo liegen die Vorteile dieser Autonomie?

Schnell nachzuvollziehen sind eindeutig die Vorteile bei den ersten drei Spiegelstrichen. Die Schulen sind vor Ort wesentlich flexibler in der Lage, die tatsächlichen Bedarfe zu ermitteln und diesen nachzukommen. Räume werden nun einmal unterschiedlich abgenutzt, der tatsächliche Bedarf an Möbeln stellt sich bezogen auf das pädagogische Konzept an Schule A anders als an Schule B dar und die Möglichkeit, jemanden als Unterstützung (Hausaufgabenhilfe, Vertretungslehrkraft etc.) einzustellen, kann eben die Schulleitung vor Ort wesentlich bedarfsgenauer und zielgerichteter erkennen als eine weit entfernte zentrale Bürokratie. Da ist u.U. der Krankheitsfall schon ausgestanden, wenn die Vertretungslehrkraft kommt. Aber auch beim vierten Spiegelstrich - der Rekrutierung des dauerhaft eingestellten Personals - ergeben sich erhebliche Vorteile, da die Schulleitung anders als eine zentrale Stelle auf die Passgenauigkeit der künftigen Lehrkraft achten kann. So kann z.B. eine Lehrkraft mit Vorerfahrungen in der Jugendarbeit mit schwer erziehbaren Jugendlichen wesentlich besser zu einer Schule im sozialen Brennpunkt passen, als eine andere, die außer ihrem Studium noch nicht viel von der Welt gesehen hat, obwohl beide eine ähnliche Abschlussqualifikation aufweisen.


4. Und die Probleme?

  • Arbeitszeit und Personal
    Jedem externen Betriebswirt ist bei Betrachtung der bis hier aufgeführten Tätigkeiten sofort klar, dass die Bewältigung all dieser Aufgaben eigentlich ohne zusätzliches Personal nicht ‚zu wuppen’ ist. Denn von der Einholung und dem Vergleich von mehreren Handwerker- oder Lieferantenangeboten bis hin zu Telefonaten um mögliche Aushilfsbeschäftigte oder zum Führen von Auswahlgesprächen etc. – all das geht nicht ohne zusätzliche Leitungszeit, wobei die dokumentierende und buchhalterische Abwicklung all dieser Vorgänge im ‚backoffice’ – dem Schulsekretariat – nicht unter den Tisch fallen darf.
  • Qualifikation
    Nach wie vor sind Schulleitungsmitglieder eben nur gelernte Lehrer, aber keine Buchhalter, gewiefte Kaufleute oder Unternehmer oder gar Personaler. Auch kursorische Fortbildungen – z.B. ‚Das Führen von Personalauswahlgesprächen’ o.ä. ändern an dieser grundsätzlichen Problematik nichts – die neuen Aufgaben regnen ungleich schneller auf die Schulen herunter, als die Schulleitungen sich selbst bei bestem Willen dafür vorbereiten und einstellen können.
  • Langzeitwirkungen
    Da wir in Deutschland bei der Festanstellung von Lehrkräften in der Regel Beamtenverhältnisse begründen, können diese Einstellungen – wenn sie von wenig erfahrenem oder wenig qualifiziertem Schulleitungspersonal vorgenommen werden – ziemlich langfristige negative Probleme erzeugen. Insbesondere, wenn der Einzelschule aus Gründen der Gewährleistung von Unterricht ‚das Wasser bis zum Hals steht’ und man nicht die geeigneten Lehrkräfte erhält, kann es dazu führen, dass an bestimmten Schulen nur mäßig qualifiziertes Personal eingestellt wird – der Ausgleich durch eine Zentralsteuerung, an Schulen mit einem nur mäßig gutem Ruf für einige Zeit nur noch Spitzenleute zu schicken, besteht bei einem autonomen Modell natürlich nicht.
  • Fazit
    Wenn ‚es gut läuft’, führt eine solche Autonomie mit Sicherheit zu einem Aufblühen der Einzelschule mit höherer Zufriedenheit von Schülern und Eltern. Leider muss man allerdings auch den gegenteiligen Effekt sehen, dass Schulen in eine Art Negativspirale kommen können. Diese Gefahr besteht um so mehr, wenn bereits durch externe Stigmatisierungen (Sozialer Brennpunkt, miefige Kleinstadt etc.) bei den künftigen Lehrkräften eindeutige Präferenzen gegeben sind – gutes Personal bewirbt sich u. U. nicht aus dem Grund einer echten Herausforderung, sondern vermutlich eher, weil der Schulstandort attraktiv erscheint. Das heißt im Einzelfall leider, dass neben einem gewissen Sozialprestige des Ortes bzw. der Umgebung dort auch noch eine dynamische und innovative Schulleitung und Kollegenschaft anzutreffen ist – der sich anschließende Prozess ist dann häufig im positiven wie im negativen Sinne selbstverstärkend.

5. Und das Ergebnis?
Die Schulleitungen versuchen mit dem vorhandenen, in der Regel nicht aufgestockten Verwaltungspersonal, die neue Lage irgendwie ‚in den Griff zu bekommen’. Das geht in der Regel nur zu Lasten der traditionellen Aufgaben der Leitung, nämlich der inhaltlichen Steuerung der Schule und der Personalführung des Bestandspersonals, womit wir fatalerweise bei der Problematik des letzten Spiegelstrichs unter Punkt 2 sowie beim Ausgangspunkt, dem PISA-Schock, angekommen wären: Werden unsere Schulen auch in dem, wie sie unterrichten, auch tatsächlich besser?
Wenn man an diesem Dilemma etwas ändern will, muss man – wie in anderen Ländern üblich

  • das Dienstleistungspersonal an Schulen aufstocken,
  • dieses höher qualifizieren und bezahlen sowie
  • zugleich die unsinnige Trennung von
    • Schulen
    • Kinderbetreuungseinrichtungen,
    • sozialer Unterstützung inklusive Abwicklung von Transferleistungen sowie
    • Hilfseinrichtungen im psychosozialen Bereich sowie Gesundheitsvorsorge etc.

im Sinne eines ‚one face to the customer’ aufgeben.
Denn Kinder – mindestens zwischen 6 und 16 Jahren - haben eines gemeinsam: sie gehen alle zur Schule, werden aber von den verschiedensten Systemen ‚behandelt’, ein nicht nur unsinniger, sondern auch teurer Luxus, der zudem bezogen auf eine optimale Ausbildung wenig zielführend ist.